Der Ziegenretter

MaskeXiahe
Im Tal des Gelben Flusses.

Frühlingszauber

Über den steilen Pass auf holperigen Serpentinen oder durch einen 3 Km langen Tunnel auf der Autobahn? Keine Frage. Wir entscheiden uns für die Autobahn. Im nu sind Räder und Gepäck über die Leitplanke gewuchtet. Wir schalten alle unsere Lichter ein, ziehen uns möglichst bunte und reflektierende Kleidung an und hoffen, dass der Verkehr in den nächsten 10 Minuten möglichst ruhig bleibt. Der Tunnel ist einigermaßen beleuchtet, doch die Straße leider nicht die beste. Mit zitternden Knien erreichen wir schließlich die andere Seite und können unseren Augen kaum trauen: Hier ist Frühling! Alle Bäume sind grün, die Kirschbäume und sogar der Raps blühen, es duftet nach frischem Gras und Blumen. Nach Monaten in Wüste und Steppe sind wir überglücklich! Im T-Shirt sausen wir die Hügel hinab, bleiben immer wieder stehen, um die Sonne auf der Haut zu spüren und Fotos von dem so lang ersehnten grün zu machen. Im Tal angelangt treffen wir auf den Gelben Fluss, den zahlreiche Hui-muslimische Ortschaften, mit goldenen Moschee-Kuppeln und duftenden Obstplantagen säumen. Wir sind völlig verzaubert von der üppigen Natur und lassen den Tag gemütlich vor(!) dem Zelt ausklingen. Mein Ziegenretter!

Ziegenretter

Es ist schon dunkel, als wir plötzlich ein zartes „Määäh“ vom gegenüberliegenden Hang hören. Mit unseren Taschenlampen leuchten wir alles ab, können jedoch nichts entdecken und beschließen der Sache am nächsten Morgen näher auf den Grund zu gehen. Ich wache gerade auf und räkele mich noch im Schlafsack, als Sebastian laut vor dem Zelt aufschreit: „Oh Gott, ich seh dich! Ich seh dich, du armes Tier!“ Erst jetzt können wir eine kleine weiße Ziege auf der anderen Hangseite erkennen, die sich wohl durch ein Missgeschick auf einen Felsvorsprung manövriert hat, von dem sie nun nicht mehr wegkommt. Verzweifelt sucht sie nach einem Ausweg und mäht immer wieder ganz herzerweichend. Das Tier sitzt fest und wenn wir ihm nicht helfen wird es dort sicherlich verenden. Sebastian analysiert die Felswand und hat auch schon gleich einen Weg im Auge um zu ihr zu gelangen. Wild entschlossen klettert er den Felsvorsprung hinauf. Zunächst sieht alles ganz einfach aus, doch dann rutschen einige große Steine unter ihm weg. Mir stockt der Atem. Ich habe große Angst um meinen Mann, will ihn aber nicht verunsichern und bleibe ganz still. Gekonnt klettert Sebastian weiter, bis er eine Grasebene erreicht. Nun sind es nur noch wenige Schritte bis zu dem Felsvorsprung, auf dem auch die Ziege sitzt. Das Tier hat ihn die ganze Zeit im Blick. Von Sebastians Versuch sie mit einer Möhre zu locken lässt sie sich nicht beeindrucken. Sie ist völlig verängstigt und ich fürchte schon sie könnte jeden Moment in Panik in die Tiefe springen. Da kommt Sebastian die rettende Idee: Er bekommt das Tier zu fassen und schafft es sie hinzulegen, um ihr die Beine zusammenzubinden. Aus der Ferne beobachte ich meinen Mann. Wie ein tibetischer Hirte wirft er sich das Tier über die Schulter und tritt den Rückweg über den Bergkamm mit ihr an. Ich kann meinen eigenen Herzschlag hören. Hoffentlich bleibt das Tier ruhig und bringt ihn nicht aus dem Gleichgewicht. Doch Sebastian weiß was er tut und beide kommen wohlbehalten auf der Ebene an. Ich bin ja so stolz! Mein Mann ist schweißgebadet, die kleine Ziege sichtlich entkräftet. Wir binden das Tier an den Hörnern an einem Stein fest und bieten ihr Wasser und Futter an. Doch sie scheint viel zu ängstlich, um irgendetwas anzunehmen. Was also nun mit ihr tun? Während wir schon überlegen, wie wir am besten den Bauern ausfindig machen, dem die Ziege gehört, kommt plötzlich eine Ziegenherde über den Bergkamm. Unsere Ziege scheint erfreut und ruft immer wieder nach ihren Freunden. Wir beschließen daher, sie frei zu lassen. Sebastian löst das Seil, die kleine Ziege läuft einige Schritte, dreht sich dann aber doch noch einmal um, bevor sie hinter den Hügeln verschwindet. Gleichgesinnte: Jean Da & Leo

Fahrräder?

Nach einem halben Tag im tibetischen Ort Tongren treten wir die Weiterfahrt in Richtung Xiahe (Labrang auf tibetisch) an. Die Landschaft wird mit zunehmender Höhe wieder sichtlich kärger. Aus Obstplantagen werden Nadelwälder, aus Tannenhainen werden rollende Grashügel und schneebedeckte Gipfel am Horizont. Der Himmel ist strahlend blau und die Wolken zum Greifen nah. Es ist wunderschön! Auf über 3600 Metern Höhe überwinden wir unseren ersten Pass bei herrlichem Wetter. Auf der Abfahrt fliegen wir nur so dem Sonnenuntergang entgegen. Doch was ist das? In der Ferne zwei Zweiradfahrer. Sollten das etwa Fahrräder sein? Ja, tatsächlich! Wir treffen auf Leonie und Jean Da aus der Schweiz und beschließen den Abend zusammen zu verbringen. Bei Nudeln und Bier tauschen wir Reisegeschichten, Tipps und Tricks aus. Die beiden sind von der Schweiz bis nach China gefahren und seit über zwei Jahren unterwegs. Eine spannende Begegnung für uns und ein wirklich schöner Abend mit viel Gelächter. Festgefahren.

Eine zähe Etappe

Über Nacht hat es heftig geregnet und geschneit. Aus Lehmstraßen sind nun tiefe Schlammgruben geworden. Schon aus der Ferne sehen wir zahlreiche LKW in Reihe stehen. Der zähe Matsch bleibt überall hängen und sammelt sich unter den Schutzblechen. Nur mit aller Kraft können wir unsere Räder über den Pass bewegen. Eine Leistung, die an diesem Tag keinem der LKW gelingt. In Labrang steht das bedeutendste Kloster des tibetischen Buddhismus außerhalb der Autonomen Region Tibets. 1200 Mönche leben hier und täglich strömen unzählige Pilger aus allen Teilen des Landes hierher. Gebetsmühlen quietschen, Räucheröfen verströmen einen Duft nach Beifuß und Tannengrün in der ganzen Stadt und überall murmelt es „Om mani padme hum“. Wir genießen einen Tag Auszeit. Postkartenmotiv.

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3 Comments

  1. Wunderbare Geschichten ihr beiden. Ich denke gerne an nette Stunden in Xining mit euch zurück, ihr seid wahre Reisende und ich bewundere eure Offenheit, euren Mut und Ausdauer. Mit der Ziege, naja, eine gerettet, die nächste gegessen…die Spiesse aus dem Restaurant lassen grüßen! Macht es gut und möge der Wind im Rücken nicht der eigene sein!
    Gruß vom Jangtse-Reisenden, Robert

    • Hallo Robert,
      vielen Dank für deine netten Zeilen. Wir hoffen sehr du hast deine „Quelle“ und gutes Licht gefunden. Auch wir mussten noch an dich denken und hoffen die Gespräch noch einmal in Deutschland fortsetzten zu können. Grüße,
      Melanie & Sebastian

  2. Melanie & Basti,

    Tolle Geschichte und fantastische Fotos. Geniesst das schöne Wetter und weiterhin viele Spass.

    M:)

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